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Teil 3: Die Hochzeit

Donnerstag, 12.07.2007

etwa 19:00 Uhr Ich bin entsetzt. Die Berge an Gepäck, die sich in meinem Wohnzimmer türmen, haben in den vergangenen fünfzehn Minuten derart an Höhe gewonnen, dass ich Angst habe, auf den obersten Taschen Schnee zu finden, sollten noch weitere hinzu kommen. Ich sehe mich schon mit Steigeisen den Mount Reisetasche erklettern. Unterwegs treffe ich dann sicher auf Reinhold Messner, der zusammen mit unserem gemeinsamen Freund Yeti den Kulturbeutel meiner Freundin durchwühlt. Und dabei will ich doch nur mit meiner Familie zur Hochzeit meines kleinen Bruders fahren, der zu meinem Leidwesen am anderen Ende Deutschlands wohnt. Sie erinnern sich, dass meine Familie nur aus mir, meiner Freundin und meinem Sohn besteht, der mittlerweile 3 Monate und 17 Tage alt ist?
Da könnte man doch annehmen, dass für einen Ausflug übers Wochenende minimales Gepäck ausreicht. Wie gesagt, könnte. Für mich persönlich hätte einer dieser winzigen Plastebeutel vom Mediamarkt ausgereicht. Was nimmt man denn schon groß mit? Frische Unterwäsche und frische Socken. Der Anzug und das Hemd hängen auf einem Bügel. Fertig. Auch, dass meine Freundin gleich die Gelegenheit nutzt und eine paar Tage bei ihrer Familie bleibt und natürlich ein paar Sachen mehr einpacken muss habe ich mit einkalkuliert. Aber dieser Wahnsinn, der sich hier vor mir auftut ist schlimmer als ein Roman von Rosamunde Pilcher. Ich hätte mir nie träumen lassen, was man alles mitnehmen muss, wenn man mit einem Säugling auf große Fahrt geht. Den Kinderwagen, ein Reisebett, Fertignahrung in ausreichender Menge, die Wickeltasche,genügend Flaschen zum Füttern, Bodys zum Wechseln, Strampler,Mützchen, Lätzchen, Schnuller, den Sterilisator, ein oder zwei Kuscheltiere, genügend Windeln, Socken, die Spieluhr zum Beruhigen, den Flaschenwärmer, das Babyphon, ein Nachtlicht, Molltextücher, und und undd
Wenn Sie glauben, ein Schwerlasttransport wäre eine logistische Herausforderung haben Sie sich schwer geirrt, das kann ich Ihnen sagen.
Anfangs hatten wir noch überlegt mit dem Zug zu fahren. Davon sind wir aber schnell wieder abgekommen, da uns ein kompletter Wagen zu teuer war. Es fanden sich auf die Schnelle auch keine Sherpas, die unser Expeditionsgepäck hätten tragen können. Ob ich mir schnell die Steigeisen unterschnalle und Reinhold..., besser nicht. Nachher treffe ich unterwegs noch den Yeti. Ich könnte das hämische Grinsen in seinem Fellgesicht nicht ertragen. Zu deutlich spuken mir noch Reminiszenzen an einen bestimmten Sonntag durch mein Hirn.
Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, vermeiden Sie es tunlichst, mit einem Kleinkind zu verreisen, es sei denn, Sie haben das große Glück und fahren privat einen Transporter mit Hochdach. Dieses Glück, dieser Segen muss man ja schon sagen, ist mir leider nicht vergönnt. Ich fahre einen Skoda Fabia, und zwar die kleine Variante. Und leider habe ich im Moment nicht den Hauch einer Ahnung, wie ich unseren ganzen Kram in dieses wirklich winzige Auto stopfen soll. Also stehe ich ratlos vor einem monströsen Haufen Taschen und anderem Kram und bin entsetzt.
Ich beschließe, den größten Posten, den Kinderwagen, als erstes einzuladen.
Ja, toll, das war ja eine grandiose Idee.
Jetzt erübrigt sich wenigstens die Frage, was in den Kofferraum soll und was auf den freien Rücksitz, denn der Kofferraum ist voll. Mit viel Gestöhn und Gefluche schaffe ich es tatsächlich, auch noch das Reisebett darin unterzubringen. Damit ist das maximale Ladevolumen zwar etwas überschritten, aber was soll´s. Ist das nicht verantwortungslos fragen Sie? Natürlich ist es das, aber was habe ich denn für eine Wahl? Entweder binde ich den Kinderwagen an die Stoßstange meines Autos und hoffe, dass der Autobahnpolizei nichts auffällt und ich am Ende des Tages nicht wegen groben Unfugs in einer Zelle hocke, oder ich lasse das Ding zu Hause und schleppe meinen Sohn die ganze Zeit in seiner Babyschale mit mir herum. Und lassen Sie sich gesagt sein, er hasst dieses Ding. Wenn er länger als eine halbe Stunde am Stück angegurtet in dieser Plastkischale liegen muss steigert er sich in Wutanfälle hinein, von denen sich John McEnroe (kennt den überhaupt noch jemand?) eine dicke Scheibe abschneiden könnte. Die Hochzeit meines Bruders wäre gelaufen und ich hätte bis in alle Ewigkeiten bei ihm Hausverbot. Nein, nein, da schiebe und stoße, stopfe und drücke ich doch lieber, bis ich Angst habe, dass sich die Türen nach außen wölben.
Nach einer Stunde schweißtreibender Arbeit habe ich alles verstaut und kann es selbst kaum glauben. Liegt es am schwindenden Tageslicht, oder beult sich das Dach nach oben? Ich rede mir ein, dass dem nicht so ist und schließe mein Auto ab.
Nach einem recht spartanischen Essen lassen meine Freundin und ich den Abend gegen 22:00 Uhr ausklingen und gehen zu Bett.

Freitag, 13.07.2007
Punkt 02:30

Mein Wecker klingelt.
Todmüde schleppe ich mich ins Bad und dusche. Leidlich erfrischt koche ich Kaffee und wecke meine Freundin, die es tatsächlich in der schier unglaublichen Zeitspanne von fünfzehn Minuten schafft aufzustehen. Nach weiteren zwanzig Minuten steht sie in Unterwäsche im Kinderzimmer und wickelt Constantin. So sachte als würde ich das Ei eines Kolibris berühren tippe ich ihr auf die Schulter und erinnere sie mit wispernder Stimme daran, dass wir ursprünglich 03:00 losfahren wollten. Wie eine Furie reißt sie ihren gut frisierten Kopf in meine Richtung und faucht: „Ja ja, hetze mich nicht. Du und Deine beschissenen Zeiten.“ Damit ist für sie das Thema erledigt. Hatte ich nicht irgendwann erwähnt, dass sie nicht zur Fäkalsprache neigt? Ich schiebe diesen Ausrutscher einfach mal auf die Uhrzeit und die Hormone.
Mein Blick gleitet ihren nackten Rücken hinunter, wandert über den wundervoll geformten Po, der in einem sexy Slip steckt, und in genau diesem Moment würde ich ihr alles verzeihen. Und um ehrlich zu sein, die geplante Abfahrtszeit war ja nur ein Richtwert. Tatsächlich wusste ich bereits im Voraus, dass wir eine Stunde später loskommen würden. Woher fragen Sie? Weil das bei uns immer so ist. Mit meiner Freundin richtet man die Termine am besten so ein, dass einem noch die Karenz von einer Stunde bleibt. So hat man die Gewähr, dass man fast immer pünktlich kommt.
Schlussendlich sitzen wir Punkt 04:00 Uhr im Auto und fahren los.
Die Autobahnfahrt verläuft entspannt, was wohl hauptsächlich daran liegt, dass es unserem Herrn Sohn einfach noch viel zu früh ist und er die komplette Fahrt verpennt. So sind wir dann auch vier Stunden später bei meiner Schwiegermutter und fallen ins Bett. Den Rest des Vormittages verbringen wir mit Schlafen, Windeln und Füttern. Am späten Nachmittag will meine Freundin entgegen meinen Befürchtungen noch in den Zoo. Es kommt wie es immer kommt. Die Vorbereitungen für den Ausflug dauern so lange, dass der Zoo, als wir endlich dort ankommen, schon geschlossen hat. Also belästigen wir kurzerhand noch meinen kleinen Bruder bei seinen Hochzeitsvorbereitungen. Kaum schiebt sich der Kinderwagen ins Blickfeld, sind die Vorbereitungen vergessen und alle scharen sich um meinen Sohn, der das Spektakel sichtlich genießt.
Mein kleiner Bruder und ich überlassen die Damen dem Babywatching und gehen nochmal die Getränkeliste durch. Achtzig Liter Bier bei etwa fünfzig erwarteten Gästen finde ich angemessen. Was mir aber Sorgen bereitet sind die kaltgestellten dreißig Liter Wasser bei erwarteten vierzig Grad Wärme. Mein Bruder ist jedoch der Meinung, dass man das fehlende Wasser mit Bier kompensieren könnte. Na dann Prost.

Samstag, 14.07.2007 - Der Tag der Hochzeit

Der Morgen beginnt wie immer entspannt hektisch. Der Unterschied ist, dass wir ausnahmsweise mal wirklich pünktlich sein MÜSSEN. Mit zärtlichen Klapsen auf ihren süßen Hintern treibe ich meine Freundin zur Eile. Auch wenn sie leicht gereizt reagiert schaffen wir es, pünktlich am Standesamt zu sein. Schon von weitem wird mir klar, dass in wenigen Sekunden ein wahrer Tornado der Begeisterung über Constantins Kinderwagen hereinbrechen wird. Und ich habe mich nicht getäuscht. Meine Freundin und ich werden kurz umarmt, ein freundliches Schulterklopfen hier, ein nettes Nicken da und schon versammelt sich die Bande um den Kinderwagen und schiebt und drückt und drängelt als gäbe es kein Morgen.
Bemerkungen wie „Ist das nicht ein niedliches Baby?“ und „Meine Güte ist der süß“ oder „Den habt Ihr aber gut hingekriegt“ machen die Runde und allmählich steigert sich die Freude über unseren Sohn in eine Ekstase, die mich stark an die Hinrichtungsszene aus „Das Parfum“ erinnert. Meine Familie und die Familie meiner Fast-Schwägerin enden vor lauter Freude kopulierend mitten auf dem Markt... oh Mann, lieber nicht dran denken. Ein ganz kurzer Blick in das Gesicht meiner Freundin und ich weiß, sie denkt dasselbe.
Wie ein Bulldozer pflüge ich durch die fleischgewordene Inkarnation von Dantes Inferno, bereit, jedem, der sich mir widersetzt, die Arme zu brechen. Bevor es jedoch zu tumultartigen Aufständen kommt, weil ich der Meute meinen Sohn entreißen will, trifft die Braut ein. Glück gehabt. Die Familie natürlich, damit wir uns nicht missverstehen.
Madeleine sieht wunderschön aus in ihrem sauteuren Kleid und bevor Sie fragen, Nein, sie ist keine Französin, die in ihrer Freizeit diese trockenen, kleinen Kuchen bäckt.
Die Trauung ist schön, was einerseits an dem Streicher- Sextett, andererseits auch daran liegt, dass das Interesse der Gäste kurzfristig von Constantin abgelenkt ist. Als sich mein elf Jahre jüngerer Bruder und seine Freundin das Ja- Wort geben könnte ich vor Stolz platzen. Ja, den hab ich auch gut hingekriegt.
Die anschließende Fotosession ist lustig, hat aber schon einen drohenden Unterton. Eine der Omas fasst Constantin an die kleinen Füße und meint in einem zutiefst vorwurfsvollen Ton: „Der arme Junge hat aber kalte Füße. Zieht dem doch mal Socken an.“ Ja klar Oma, bei einer gefühlten Temperatur von etwa 80 Grad ziehe ich meinem Sohn Socken an. Am besten zwei Paar.
In Momenten wie diesen bin ich froh eine Hebamme wie unsere Jutta zu haben. Nicht nur, dass Jutta inzwischen sowas wie unsere große Schwester und eine wirklich liebe Freundin geworden ist, nein, sie bereitet einen auf genau solche Situationen vor: „Macht, was ihr für richtig haltet. Lasst die Sprüche zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus gehen. Das hilft, sonst lauft ihr am Abend Amok.“
Meine Freundin streichelt mir ganz kurz über den Arm und mein Puls beruhigt sich wieder. Das kann ja heiter werden. Zum Glück kam mein jetzt frisch verheirateter Bruder im Zuge der Hochzeitsvorbereitungen auf die Idee, die Hochzeitsgäste mit einer nostalgischen Straßenbahn statt den üblichen langweiligen Taxen zur Feier zu transportieren. Selbstredend sind die Dinger zu klein, um einen Kinderwagen unterzubringen, sodass wir mit unserem Auto fahren dürfen... ähm... müssen. Natürlich lassen wir es uns nicht nehmen, den schwitzenden Angehörigen in ihre hochroten Gesichter zu lachen und der Bahn, in der mittlerweile backofengleiche Temperaturen herrschen dürften, hinterher zu winken. Dann setzen wir uns gemütlich in unser kleines, aber klimatisiertes Auto und fahren los. Da ich meiner Freundin praktisch jeden Wunsch schon fast von der Nasenspitze ablesen kann, machen wir noch eine kleine Stadtrundfahrt. Ja, Sie haben es erraten, damit das Auto auch schön kühl wird. So tut es uns fast leid (eigentlich nicht fast), dass wir schon da sind und aussteigen müssen. Constantin räkelt sich wohlig und scheint nicht wirklich in seinen Kinderwagen zu wollen, obwohl er die Babyschale hasst. Als ich die Autotür öffne denke ich im ersten Moment ich hab mich verfahren und bin in einer riesigen Sauna gelandet. Die Sonne prügelt unbarmherzig auf mich ein und der Boden flirrt vor Hitze. Sehnsüchtig denke ich an Reinhold und den Yeti, die sich jetzt wahrscheinlich gegenseitig kalte, wahnsinnig erfrischende Schneebälle an den Kopf werfen. Glauben Sie mir, jetzt könnte ich Yetis dämliches Grinsen locker ertragen.
Seufzend steige ich aus, wuchte den Kinderwagen aus dem Kofferraum und hoffe, dass die Vollgummireifen nicht auf dem Beton kleben bleiben. Constantin ist zutiefst angewidert von den Temperaturen und zieht eine Schnute allererster Sahne. Mein mittlerer Bruder kommt mir entgegen und raunt mir zu: „Alter, unser Bruderherz ist mit Madeleine und dem Fotografen vor zehn Minuten verschwunden.“ Entsetzt starre ich ihn an. Wissend nickt er mir und meiner Freundin zu, der der Mund offen steht.
„Mist“, sage ich. „Warum hast Du mir das nicht gleich gesagt?“
„Wollte ich ja, aber Du hast den Kinderwagen so schnell aus Deinem Auto gezerrt und aufgeklappt.“
„Warum rufst Du mich denn nicht an?“
„Kein Handy dabei. Mach das Beste daraus.“ Toll, der hat gut reden. Als ich ihm über die Schulter schaue, kann ich die erste Welle babygeiler Verwandter auf uns zu rollen sehen.
„Soll ich Dir ein Bier zur Beruhigung holen?“, fragt mein Bruder.
„Danke, aber ich bräuchte eine Flasche Lachgas, um das zu ertragen.“ Wir grinsen uns an, wie nur Brüder sich angrinsen, weil auch er das durch hat, dann verschluckt ihn die Masse parfümierter, schwitzender Körper.
Dutzende Ach´s und Eieiei´s und Oh´s und Ah´s machen die Runde, schwitzende Hände greifen nach Constantins kleinem, unschuldigen Körper und dann bricht es über uns herein: „Der hat aber kalte Füße, zieht dem doch mal Socken an.“
Wir haben keine mit! (Klar haben wir, aber das müssen die ja nicht wissen!)
„Soviel Sonne ist auch gar nicht gut für Babys, stellt den lieber in den Schatten.“
Er hat doch einen Sonnenschirm mit UV- Schutz.

„Hat der unter dem kurzärmeligen Strampler noch einen Body an? Nein? Das müsst Ihr immer machen, sonst wird der Arme noch krank.“
Es ist doch viel zu warm für einen Body.

„Seine Haut ist so kühl, der friert bestimmt. Deckt den doch mal zu.“
Ja, oder wir setzen ihn auf eine heiße Herdplatte.

„Soll ich ihn mal aus dem Wagen nehmen? Da staut sich die Hitze so drin.“
Nein, und wehe das versucht einer.
„Nehmt mal den Schirm zur Seite, ich kann ihn gar nicht richtig sehen.“
Nein, der Schirm bleibt wo er ist, sonst scheint ihm die Sonne ins Gesicht!

Meine Halsschlagader sieht inzwischen einem Feuerwehrschlauch zum Verwechseln ähnlich und eine passende Gesichtsfarbe hab ich mir auch zugelegt. Und das kommt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht von der Hitze.
Junge, Du bist so rot im Gesicht. Setz Dich mal lieber hin. Ich geh solange mit dem Kleinen eine Runde spazieren.“
Ich. Will. Nicht. Sitzen. Und. Keiner. Geht. Spazieren.

„Darf ich Ihn mal halten?“
NEIN!

„Ach, er fremdelt wohl?“
NEIN, es ist einfach zu WAHARM!
„Schade. Wie lange fremdelt er den schon?“
AAAAAAAAAAHHHHH...
Warum bin ich nicht Vitali Klitschko?
„Was hat er denn auf seinem Kopf? Ist das ein Ausschlag?“
Nein, das ist Milchschorf.
„Nein, mein Junge, das ist kein Milchschorf, vertrau mir, ich war mal Krankenschwester.“
Ja, aber Du bist schon vor dem ersten Weltkrieg in Rente gegangen. Es IST Milchschorf.
Natürlich ist es das, weil erstens wir uns belesen haben und zweitens es Jutta bestätigt hat.
„Stillt Ihr denn überhaupt? Also ich hab meine Kinder bis zum achten Monat gestillt.“
„Es ist aber auch was dünn. Gebt dem doch mal ein Gläschen Brei, damit er richtig satt wird.“
„Das viele Schnullern ist nicht gut, da verformt sich der Gaumen.“
„Ihr müsst immer darauf achten, dass er nicht auf der Seite liegt.“
„Passt auf, dass er nicht auf dem Rücken einschläft“
„Ihr badet ihn nicht jeden Tag? Das müsst Ihr aber.“
Können Sie sich vorstellen, wie sich ein Hochdruckkessel fühlt, Sekunden bevor ihm das Ventil wegfliegt? Ich kann es. Sehr gut sogar. Plötzlich verstehe ich auch einen Amokläufer.
Mein mittlerer Bruder hat sich bis zu mir durchgekämpft und flüstert mir ins Ohr: „Sie sind wieder da. Du kannst Dich jetzt langsam runterfahren. Ach ja, hier ist Dein Bier.“ Er hält mir ein Glas Bier hin. Die Blume ist perfekt, die goldgelbe Farbe zieht mich sofort in ihren Bann, der herbe Geruch kitzelt in meiner Nase und Tröpfchen von kühlem Kondenswasser perlen an der Außenseite des Glases. Schöner kann keine Werbung sein. Ich setze das Glas an und stürze das Bier in einem Zug hinunter. Ob es schmeckt fragen Sie? Keine Ahnung, es ist kalt und es ist feucht, das muss fürs erste reichen.
Die dicht gedrängte Menschentraube lichtet sich langsam als das junge Ehepaar mit dem Fotografen im Schlepptau wieder in den Mittelpunkt des Interesses rückt. Fürs erste können meine Freundin und ich durchatmen. Mein Bruder bringt uns beiden ein frisches Bier und diesmal lasse ich es langsam meine Kehle hinab rinnen, und noch nie hat mir ein Bier so gut geschmeckt.
Es kommt wie es kommen muss. Constantin ist der ganze Rummel zuviel. Er wird unruhig und quengelig und just in dem Moment, in dem das Brautpaar die Hochzeitstorte anschneidet kreischt er los. Meine Freundin zieht ein Gesicht, als wäre ihr schlecht und ich sehe garantiert nicht besser aus.
Die Hitze im Festsaal ist schier unerträglich, was unseren armen Sohn nur noch mehr anstachelt. Selbstverständlich bieten sich alle Verwandten an, ihn umgehend zu beruhigen, damit wir in Ruhe Kaffee trinken und Hochzeitstorte essen können. Würde ich das Angebot annehmen, hätte mein Sohn seine erste Scheidung hinter sich, wenn wir uns wieder sehen. Gequält lächelnd lehne ich ab. Und mal ehrlich, wieso sollte man sich eigenhändig bei einer Temperatur, bei der schon die Kuchengabeln anfangen zu schmelzen, noch mit heißem Kaffee foltern? Da sich meine masochistischen Neigungen in Grenzen halten und ein großes Glas Bier an einer festlichen Kaffeetafel einfach beschissen aussieht, schnappe ich mir meine Freundin, die das typische Kaffeetrinken sowieso hasst und meinen Sohn und wir verkrümeln uns in den nahen Park. Dort ist es ruhig, die Bäume spenden Schatten, die Vögel zwitschern und niemand gibt uns schlaue Ratschläge. Wir setzen uns auf eine Bank, saugen gierig die frische, angenehm nach Gras und Blumen duftende Luft in unsere Lungen und chillen (ja, ich beherrsche die Sprache der Jugend noch, auch wenn schon das erste Grau durch meine Haare schimmert). Das Leben kann so schön sein. Bis mein Handy nach einer Stunde loskreischt. Sie ahnen es bereits. Der Mob will wissen wo das Baby ist und lässt auch keine Ausrede mehr gelten. Schweren Herzens machen wir uns auf den Rückweg.
Inzwischen haben sich die Reste der Hochzeitstorte in einen unappetitlichen Haufen zerflossener Sahne, matschiger Buttercreme und trauriger Krümel verwandelt. Die Herren der Familien haben ihr erstes oder sechstes Bier intus, stehen in kleinen Grüppchen zusammen und erinnern sich mit geröteten Wangen an die guten alten Zeiten. Die Damen haben sich selbstredend um den Kinderwagen versammelt, sehen jedoch von lautem Gegacker und den Plänen einer Kindesentführung ab, da Constantin eingeschlafen ist. Wir Jüngeren stehen ebenfalls mit einem Bier in der Hand zusammen und diskutieren aktuelle Fußballergebnisse, geben einander Tipps zu Computerproblemen und sind einfach nur froh, bisher von Verbrennungen dritten Grades durch die extreme Sonneneinstrahlung verschont geblieben zu sein. Alles in allem gestaltet sich die Zeit zwischen Kaffee und Abendessen also recht angenehm.
Das ändert sich schlagartig, als Constantin kurz vor Eröffnung des Buffets wach wird und gewickelt werden will. Augenblicklich kreisen die Geier wieder und gieren nach frischem Fleisch. Meine Freundin lehnt jedes Angebot ab und wickelt selbst, umringt von sämtlichen weiblichen Gästen, die sich natürlich nicht zu schade sind uns an ihrem reichlich vorhandenen Wissensschatz teilhaben zu lassen.
„Ihr nehmt kein Puder? Also früher hatten wir immer Puder.“
„Dann nimm doch wenigstens ein wenig Creme.“
„Mach die Windel nicht so straff zu. Der Kleine bekommt ja gar keine Luft.“
„Diese modernen Plastikwindeln sind auch nicht gut für Kinderhaut.“
„Ja, das stimmt. Die alten Windeltücher waren viel besser. Versucht es doch mal damit!“
Meine Freundin verfügt über die beneidenswerte Eigenschaft, störende Geräusche einfach auszublenden. So wie sie im Moment guckt, hört sie nicht mehr als ein Hintergrundrauschen. Sie wickelt und füttert in Ruhe zu Ende, während die verzückte Masse weiter Tipps zum Besten gibt, die auch gut aus dem Mund von Kaiser Wilhelms Amme hätten stammen können.
Da alles ganz ruhig abläuft und keine Ausschreitungen zu befürchten sind, hole ich mir ein frisches Bier und geselle mich wieder zu meinen beiden Brüdern. Kurz darauf lässt mich ein Jubelschrei zusammenfahren. Was ist los? Gehetzt schaue ich mich um. Mein Bruder tippt mich an und nickt in Richtung Festsaal. „Alles okay“, sagt er.
„Was war denn“, will ich wissen.
„Dein Sohn hat gerade sein Bäuerchen gemacht“, sagt er und grinst.
Das ist das schöne am Kind sein, da wird noch jedes Bäuerchen und jedes kleine Püpschen bejubelt, als wäre Deutschland Fußballweltmeister geworden. Wenn ich mein Bier austrinke und ein schönes Bäuerchen mache werde ich nur schief angeguckt. Okay, dafür guckt mir aber keiner zu, wenn ich auf dem Klo sitze und rät mir, meinen Hintern zu pudern. So gleicht sich das wieder aus.
Der Rest des Abends verläuft ruhig, zumindest für uns, da sich die Aufmerksamkeit der Gäste wieder dem Brautpaar zuwendet. Constantin ist total erschöpft, was einerseits an der Hitze des Tages liegt, andererseits aber auch an den vielen Eindrücken, die er sammeln musste. So schläft er schnell ein und meine Freundin und ich können tatsächlich fast unbehelligt feiern. Ab und zu fragt noch jemand, ob das Baby noch schläft, was wir bejahen und ob es erlaubt ist, nach Constantin zu gucken, was wir ablehnen.
Irgendwann am späten Abend, die extreme Wärme des Tages wurde mittlerweile von einer lauen Brise abgelöst, entscheiden wir uns, zu gehen, was nochmal zu einem kleinen Auflauf führt. Alle wollen zum Abschied noch einen Blick in den Kinderwagen werfen, legen ihre verzückten Gesichter auf und wünschen uns alles Gute für die Zukunft und viel Spaß, dass man meinen könnte, wir hätten geheiratet. Irgendwie tut mir mein kleiner Bruder und seine Frau jetzt leid. Mein Sohn hat den Beiden vollkommen die Show gestohlen. Deshalb umarme ich die frisch Vermählten besonders herzlich und weiß, dass sie es verstehen, weil ich es auch verstehen würde.
Als wir dann endlich im Auto sitzen sagt meine Freundin zu mir: „Weißt Du, die Feier war doch schön, trotz des Stresses.“ Ich nicke und fange plötzlich an zu grinsen.
„Was ist los“, will meine Freundin wissen.
„Ach nichts“, grinse ich. „Mir ist nur eben eingefallen, dass die Beiden ja noch keine Kinder haben.“
„Unterstehe Dich“, warnt meine Freundin mit erhobenem Zeigefinger und kann sich ein Grinsen ebenfalls nicht verkneifen.
„Wieso“, tue ich ganz unschuldig. „Das ist doch das Schöne daran, wenn man schon Kinder hat. Man kann jungen Eltern immer gute Ratschläge geben.“
Und plötzlich verstehen wir, was die Älteren dazu treibt, die Jüngeren mit dämlichen und unnützen Tipps zu nerven. Die mussten da auch durch und machen sich einen Riesenspaß daraus, es uns bei passender Gelegenheit so richtig zu geben. Wahrscheinlich sitzen die jetzt alle im Kreis und klopfen sich vor Lachen auf die Schenkel.
In diesem Augenblick schwöre ich mir, dass mein kleiner Bruder dafür leiden wird.